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Harald Goldbeck-Löwe
Emil-von-Behring-Gymnasium Großhansdorf

Ansprache zur Abiturientenentlassung am 31. Mai 1972 mit Anmerkung 2012

Eine letzte Unterrichtsstunde


Liebe Abiturienten!

 

Eigentlich wollte ich Ihnen einiges zum Teil Persönliches in einer Art Zusammenfassung unserer gemeinsamen Zeit sagen. Ich wollte auf Ihre und unsere Sondersituation des Schulaufbaus eingehen, auf den Vorzug, dass Sie immer die ältesten Schüler waren und auf die Nachteile, die sich für Sie aus der nur unvollständigen Trennung in zwei Klassen ergaben. Doch dann wurde mir klar, dass diese Dinge nur geringen Erinnerungswert haben. Noch ehe Sie diesen Raum verlassen hätten, wäre wohl anderes schon wichtiger gewesen.

Eines bleibt bei vielen aus der Schulzeit als dunkler Fleck in der Erinnerung zurück: Das Gefühl, man habe zu viel und Unnötiges gelernt. Vielleicht können Ihnen aber einige Gedanken über ein Wissenschaftsgebiet, das vom Schulunterricht höchstens gestreift werden kann, helfen, gerade diesen Unterricht in einem anderen Licht zu sehen. Darf ich „noch eins draufsetzen“ und Sie zu einer letzten Unterrichtsstunde einladen? Lassen Sie mich versuchen, Ihnen einen der Grundbegriffe der Kybernetik zu erläutern und einige Konsequenzen anzudeuten.

Der Mathematiker Norbert Wiener stieß 1920 zu einer Gruppe von Medizinern, Biologen und Technikern, mit denen zusammen er etwa vierzig Jahre lang außerordentlich fruchtbare Forschungsarbeit leisten konnte. Die ersten Untersuchungen galten dem Prinzip der Rückkoppelung, das in den Grundzügen z.B. vom Fliehkraftregler der Dampfmaschine her schon bekannt war. Dort wird die Drehgeschwindigkeit des Schwungrades dazu benutzt, sich selber konstant zu halten. Der Zweck dieses Reglers ist also die Stabilität des Vorgangs, in den er eingeschaltet ist.

Ein anderes Beispiel könnte das Problem noch klarer darstellen. In jedem Kühlschrank gibt es ein kleines Gerät, Thermostat genannt, das den Motor einschaltet, sobald der Innenraum zu warm wird, ihn aber auch wieder abstellt, wenn die Temperatur genügend gesunken ist. Dabei wird die Abweichung der gemessenen Temperatur von dem eingestellten Wert dazu benutzt, eben diese Abweichung zu verringern. Man spricht hier daher von negativer Rückkoppelung. Im allgemeinen Sinn versteht man darunter einen Kreislauf von Information, der die Stabilisierung eines Systems zum Ziel hat.

Ich möchte an dieser Stelle die technischen Regelvorgänge sehr scharf von allen anderen abgrenzen und diese die biologischen nennen, obgleich sie nicht immer Teile lebender Systeme sind. Als unterscheidendes Kennzeichen der technischen Regelkreise gegenüber den biologischen muss man ansehen, dass sie vom Menschen geplant sind. Sie setzen also in jedem Fall die Anwesenheit einer konstruktiven Intelligenz voraus. Weiterhin enthalten sie immer ein Element, das dem ständigen Eingriff von außen her zugänglich ist. Es lassen sich zwei Zweckrichtungen für technische Regelkreise erkennen. Solche Maschinen können einerseits dazu gebaut sein, dem Menschen mühevolle oder stumpfsinnige Arbeiten abzunehmen, wie etwa das Kontrollieren der Kühlschranktemperatur und das Ein- und Ausschalten des Kühlaggregats. Eine solche Maschine ist hilfreich und wird im allgemeinen auch gerne gesehen, es sei denn, ihre Fähigkeiten geraten in Bereiche spezifisch menschlicher Aufgaben hinein, wie etwa beim Computer.

Eine andere Gattung technischer Regelanlagen, die man vielleicht genauer mit dem Begriff „kybernetische Maschinen“ umreißen kann, stößt schon eher auf Vorbehalte. Es sind dies Geräte, die die Funktionsweise anderer Regelkreise und ihre Störungen erklären und veranschaulichen sollen. Ein Beispiel ist die oft angefeindete Wienersche Menschmaschine.

Wiener beschreibt einen kleinen Wagen, der mit einer optischen Einrichtung und einer Rückkoppelung auf die Steuerung in der Lage ist, sich selbst den Weg zu einer Lichtquelle zu suchen. Die Rückkoppelung kann aber so eingestellt werden, dass sich der Wagen genauso so verhält wie ein Mensch, der an sog. Intentionstremor leidet. Bei diesen Kranken gerät etwa der Arm, der ein Glas Wasser zum Mund heben will, in so starke Schwingungen und Zitterbewegungen, dass das Glas leer ist, ehe es den Mund erreicht.

Fasziniert, aber auch voll Schrecken starrt der Mensch auf diese offensichtlich kranke Maschine. Es nützt ihm nichts, wenn man erklärt, dass sich der Rückkoppelungsmechanismus durch ein System nichtlinearer Gleichungen beschreiben lässt, das bei geeigneter Wahl der Parameter periodische Lösungen besitzt. Er projiziert in die Maschine das hinein, zu dem sie nur Modell sein kann. Für ihn hat die Maschine die dargestellte Krankheit.

Diese Einstellung wird mit Sicherheit verhindern, dass der Wagen zur Bekämpfung der Krankheit und ihrer Schrecken eingesetzt werden kann. Nur der Mensch, der in der Menschmaschine das sieht, was sie wirklich ist, nämlich eine Maschine, wird auf die Ursache des Intentionstremors stoßen, eine im Kleinhirn lokalisierbare Störung einer Rückkoppelungsdämpfung für Muskelbewegungen.

Ich möchte noch einen Schritt weitergehen. Vielen von uns wäre es nicht möglich, in dieser Krankheit nicht ein existenzvernichtendes Schicksal zu sehen. Doch genau solche sachliche, von Emotionen unbelastete, im tieferen Sinn also wissenschaftliche Einstellung ist nötig. Nur in dieser Denkweise wird die soziologische Parallele sichtbar: die durch Unverhältnismäßigkeit der Mittel hervorgerufene Eskalation von Terror und Gewalt, die überall dort aufzutreten pflegt, wo in großen sozialen Gruppen willentlich die herrschenden Zustände abrupt verändert oder umgekehrt zementiert werden sollen. Diese Erscheinung wird so als eine Störung zwischenmenschlicher Rückkoppelungen verständlich.

Je umfassender ein Organismus ist, um so komplexer sind die Regelvorgänge, die seiner Stabilisierung dienen. Es handelt sich dabei z.B. im Fall des demokratischen Staates fast ausschließlich um technische, d.h. vom Menschen geplante Regelkreise, die also dem Eingriff von außen her zugänglich, - aber auch ausgeliefert sind. Die mathematische Kybernetik vermag recht genaue Voraussagen über die Selbsterhaltung solcher gesteuerten Systeme zu machen. Überschreitet die Störung auch nur eines Teils eines Regelkreises ein gewisses Maß, dann führt das notwendigerweise zur Vernichtung des gesamten Systems, falls nicht das schadhafte Teil ersetzt werden kann.

In vielen Fällen ist das übermäßige Anwachsen von Störungen nur dadurch zu verhindern, dass die Normwerte geändert werden,  die den stabilen Zustand des Organismus garantieren. Diesen Vorgang nennt man im Kleinen: Umlernen, sonst: Evolution. Auch er kann teilweise mathematisch beschrieben werden. Mit einiger Vorsicht kann man voraussagen, dass relativ schnelle Änderungen der Normwerte das ganze System in Schwingungen, und damit wiederum in die Selbstzerstörung treiben.

Es ist sicher falsch, die angedeutete mathematische Theorie auf den augenblicklichen Zustand politischer Unsicherheit ohne Vorbehalte anzuwenden. Dazu ist der Staat als sozialer Organismus viel zu komplex. Terroristen werden sich auch nie durch mathematische Gleichungen beschreiben lassen. Aber eines sollten wir versuchen einzusehen: die Kybernetik könnte uns dazu verhelfen, zu einem Zustand relativer Stabilität zurückzukehren. Wir müssen sie nur als das nehmen, was sie ist: eine Wissenschaft, deren Modelle uns Ansatzpunkte für therapeutische Maßnahmen zeigen. Die Therapie müssen wir Menschen schon selber übernehmen, wenn es auch sicher große Mühe erfordert, durch engagiertes Gespräch soziale Rückkoppelungen intakt zu halten. Der Selbsterhaltungstrieb in jedem Organismus, in einer Familie, einer Klasse, einem Kollegium, einer Schule, einer Universität oder in einem Staat fordert aber diese Mühe von jedem, gleich welchen Alters.

Sinnloses Beharren auf hergebrachten Ordnungen und Moralbegriffen ist genauso gefährlich wie überstürzte Revolution. Wir sollten daher auch dies einzusehen lernen: der Satz: „Es ist nicht üblich!“, kann die gleiche verheerende Wirkung haben wie eine Terroristenbombe. Wir müssen auch nicht vorschnell resignieren, wenn dieses Umlernen einmal zu schwer für uns ist und unsere Bemühungen misslingen. Wir sind ja nie allein, und es wird sich bestimmt Hilfe finden. Aber können wir es uns noch lange leisten, so wenig wie möglich von uns selber zu fordern?

 


Anmerkung 2012 anlässlich des Treffens mit Ehemaligen zum 40. Jahrestag der Abiturentlassung:

Die Feier zur Entlassung der ersten Abiturienten nach Gründung des Emil-von-Behring-Gymnasiums fand am 31. Mai 1972 im Waldreitersaal der Gemeinde Großhansdorf statt. Sie wurde kombiniert mit der Feier zur Entlassung des pensionierten Gründungsdirektors, Herrn Holz. Für die Ansprache an die Abiturienten wurden nur fünf Minuten zugestanden. Daher konnte das ins Auge gefasste Thema nur umrisshaft behandelt werden.

Die letzten beiden Absätze, das „Lernziel“ meiner Unterrichtsstunde enthaltend, werden verständlich durch einen kurzen Rückblick in die Geschichte. Da ich mein Universitätsexamen 1967 abgelegt hatte, gehörte ich zwar nicht zu den sog. „Achtundsechzigern“. Dennoch steckte uns jungen Lehrern die „Bleierne Zeit“ der sechziger Jahre mit ihrem politischen, sozialen und moralischen Stillstand schwer lastend in den Knochen. Viele von uns waren sich unserer Verantwortung für die Erhaltung und Pflege einer Kultur des jugendlichen Protestes, des Räsonierens um seiner selbst willen bewusst. Wir mussten aber erleben, dass die Radikalisierung dieses Protestes und seine kriminell gewalttätige Institutio-nalisierung in der „Roten Armee Fraktion“ (RAF) genau das Gegenteil bewirkte (vgl. Zeittafel RAF, Ausschnitt). Ein direkter Anlass wurde mir in meiner Schule dadurch geliefert, dass ein von mir im Sinne sozial motivierter Rückkoppelung verstandener Vorschlag durch ein Mitglied der Schulleitung mit eben den von mir zitierten Worten als unüblich abgeschmettert worden war.




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