Ansprache zur Abiturientenentlassung am 29. Juni 2001
Die „würdige" Schule - was kostet sie?
Tucholsky aber gab den Rat: „Hast
du Gelegenheit zu reden,
missbrauche sie!"
Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, wir verabschieden Sie in dieser Feier aus Ihrer letzten allgemeinbildenden Schule und entlassen Sie aus einem Lebensabschnitt, den man früher als den letzten geschützten bezeichnete. Erst danach „ging's hinaus in das feindliche Leben". Aber fühlten Sie sich wirklich noch beschützt? Sind Sie jetzt nicht auch den entwürdigenden Situationen des Versagens an der Tafel vor dem ganzen Kurs und einem mit bohrenden Fragen meisterlich „terrorisierenden" Lehrer entronnen?
Liebe Mütter und Väter unserer Abiturienten, Sie haben bei uns arbeiten lassen. Die Ausbildung Ihrer Kinder ist allerdings noch längst nicht abgeschlossen. Selbst wenn eines von ihnen mit einer glänzenden Geschäftsidee im Hintergrund - natürlich aus der Computerbranche - schon jetzt eine eigene Firma gründen sollte, so wird dennoch eine ganze Weile vergehen, ehe Sie sich beruhigt zurücklehnen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Lehrerinnen und Lehrer unserer Abiturienten könnt Ihr, - können wir - endlich aufatmen: alle haben bestanden. Ein schöner Abschluss! Wir bleiben nun aber zurück und müssen weitermachen. Deshalb sollten auch wir bei dieser Gelegenheit innehalten und uns überlegen, was gut war und was wir besser machen können.
Meine Damen und Herren, liebe Gäste. Sie müssen hier bei so viel Reden ausharren und das ganze Ritual der Entlassungsfeier ertragen. Wir sollten aber diesem Ritual des Innehaltens, Bilanzierens, des Ausblick-Wagens und zuletzt der Freisprechung einen hohen Stellenwert im Leben unserer Schule und unserer Schüler zumessen. Es ist ein kleiner aber wichtiger Beitrag zur Bildung der CI, der Corporate Identity, des „Wir"-Gefühls unserer Schule.
Oft meinte ich in den letzten Jahren, es könne zwischen mir und meinen Schülerinnen und Schülern außer über fachliche oder disziplinarische Themen keine echte Kommunikation geben. Zu verschieden sei unser Lebensgefühl wegen des Altersunterschiedes, zu groß sei die berufsbedingte Kluft zwischen Schüler und Lehrer, ein echtes Inkompatibilitätsproblem. Und dann war da doch ab und zu, manchmal sogar mitten im Klausurenstress, bei einer oder einem von Ihnen ein Aufhorchen zu erkennen, ein unverhofftes Lächeln, ein schneller Blick geradezu in die Augen, eine direkte, mich betreffende Bemerkung, eine angedeutete Übereinstimmung. Das waren Momente, auf die es mir ankommt! Weil es solche Momente gab und weil ich in diesem Jahrgang mehr Schüler als in jedem anderen aus dem Unterricht kenne, nahm ich gerne das Angebot an, Sie zu verabschieden.
Wir modernen Lehrer sind es gar nicht mehr gewohnt, einem still lauschenden Auditorium eine Reihe wirklich eigener Gedanken in sorgfältig vorbereiteter Rede vorzutragen. Im Normalfall können wir immer die Lehrpläne für das verantwortlich machen, was wir vor unseren Klassen und Kursen ausbreiten. Für die Lehrer meiner Schulzeit dagegen waren Ansprachen nichts Ungwöhnliches. Als ich vor ziemlich genau einem halben Jahrhundert in ein schleswig-holsteinisches Gymnasium kam, war es üblich, dass die gesamte Schulgemeinde jede Woche mit einer einstündigen Andacht begann. Es sang der Schulchor in Begleitung des Orchesters, dann hielt ein Kollege eine Ansprache, der Direx tat seine Bekanntmachungen kund, und wieder sang der Chor. Dann erst wurde gearbeitet. Was für eine würdige Schule! Aber leider wurde in ihr auch noch mit daumendicken Stöcken geprügelt. Demütigend und würdelos!
Als ganz junger Studienassessor verabschiedete ich vor etwa 30 Jahren schon einmal einen Abiturjahrgang. Mein Thema war die Rückkoppelung, das Feedback. Dieses Thema hatte ich gewählt, weil durch das Kollegium meiner Schule damals tiefe Risse gingen, verursacht durch grundverschiedene pädagogische Einstellungen. Als Folge davon standen wir jungen Lehrer unseren Schülern oft näher als unseren älteren Kollegen. Wir hielten oft für unwürdig, was im Unterricht geschah. Echte Auseinandersetzungen mit der Möglichkeit kompetenter Rückkoppelung wurden von beiden Seiten verweigert, die ganze Atmosphäre war verkrustet. Gelitten haben alle, auch unsere Schüler. Eine Lösung dieser unwürdigen Situation, wenn es denn eine echte Lösung geben könnte, sah ich nur im vorbehaltlosen, nie verächtlichen, engagierten, auch selbstkritischen Gespräch. Und die Wurzel dieses Problems, das musste ich in den dreißig Jahren seitdem lernen, war kein Generationenproblem. Ich hatte gehofft, mit der Abi-Rede damals etwas zu bewirken. Aber den Prozess der Erosion meiner Schule konnte ich nicht aufhalten. In Klassenstärke gingen in den nächsten Jahren unsere Schülerinnen und Schüler nach Hamburg. Einige Kollegen und Eltern gründeten in einem Nachbarort ein weiteres Gymnasium. Im Laufe weniger Jahre halbierte sich die Schülerzahl: eine Abstimmung mit den Füßen.
Heute sind solche Wanderungsprozesse längst durch länderübergreifende Abkommen verhindert. Schulprogramme sollen eine objektiv nachvollziehbare Qualitätssicherung bewirken. Erzwingen wir so eine „gute Schule"? Die Suche danach ist so alt wie die Institution Schule selber, und das Versagen darin so alt wie die Suche. Lohnt es sich also überhaupt, noch weiter zu suchen? Viele haben resigniert, verdrängen die wahren Probleme, übersehen zukünftige Gefahren und möchten am liebsten alles beim alten lassen. Mit dieser Haltung können wir aber nicht dem rasanten Wandel der Anforderungen gerecht werden, die das „feindliche", das wahre Leben an unsere Schüler stellen wird. Würdig unserer Aufgabe und Arbeit wäre es, wenn es gelänge, auch in Zukunft unsere Schüler so kompetent zu entlassen, dass sie trotz vorhersehbarer Krisen und unvorhersehbarer Hindernisse ein sinnerfülltes Leben führen können. Das bedeutet u.a., dass die Schule angesichts wachsender Unzulänglichkeiten der Familien die Aufgabe übernehmen muss, das Selbstvertrauen unserer Schülerinnen und Schüler zu bilden, worunter ich etwas anderes verstehe als das oft mit ihm verwechselte Durchsetzungsvermögen. Das bedeutet aber auch, dass wir sozusagen als Reservoir, aus dem sie in Krisen und persönlichen Katastrophen schöpfen können, unseren Schülerinnen und Schülern Stoff für einen Fundus anbieten müssen, der große Ähnlichkeit mit der alten humanistischen Bildung, insbesondere ihrem künstlerischen Teil, aufweisen sollte.
Wenn ich alles, was diesen Aufgaben unserer Schule entgegensteht, als unwürdig bezeichne, dann geht es darum, würdige Schule zu machen. Welchen Einsatz müssen wir herzugeben bereit sein , damit die Nachfolger unserer Abiturienten nicht mehr solchen entwürdigenden Situationen ausgesetzt sind, die im Effekt doch nur das Lernen behindern, wo sie es doch eigentlich fördern sollen. Was können, was müssen wir tun, damit diese Schule wirklich unter dem Schutz des Grundgesetzes steht? „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."
Natürlich wissen wir, was mit
dieser Feststellung
gemeint ist. Dennoch möchte ich manchmal lieber formulieren:
„Die
Würde des Menschen ist antastbar!" Und sie wird angetastet,
jeden
Tag - auch heute -, und überall - auch hier in dieser Schule,
auch
hier in unseren Familien. Es ist sicher schwer, sich das so pauschal
einzugestehen,
und es mag auch jetzt mancher von Ihnen emotionsgeladen voller
Widerspruch
sein. Dennoch: finden wir nicht auch bei uns in jeder Abizeitung
Beispiele
menschenunwürdiger Situationen? Man kann sie trotz des
zerrissenen
Zusammenhangs, in dem sie oft geschrieben sind, oder des Stils, der oft
für einzelne Kolleginnen und Kollegen unwürdig und
ehrabschneidend
ist, finden, wenn man sie finden will. Dabei ist das ein durchaus
zweiseitiger
Vorgang, dieses Antasten unserer Menschenwürde.
Können nicht
beinahe alle Lehrerinnen und Lehrer Geschichten erzählen von
unwürdigen
Situationen, in die sie gebracht worden sind? An dieser Stelle
möchte
ich dem Redaktionsteam der diesjährigen Abizeitung
ausdrücklich
dafür danken, dass die auch in diesem Jahr reichliche Kritik
in einer
Form geschrieben wurde, die es eher möglich macht, sie ernst
zu nehmen.
Bei unserer Untersuchung zur „würdigen" Schule gehe ich nun einmal in umgekehrter Reihenfolge vor wie in meiner Begrüßung. Also zuerst wir Lehrer, den Lehrer und Lehrerinnen machen nun mal die Schule. Am Otto-Hahn-Gymnasium läuft vieles sehr gut. Wenn ich anfangen wollte, alle Errungenschaften aufzuzählen, die wir zu den Stärken unserer Schule zählen können, dann wäre ich erstens bei Einbruch der Dunkelheit noch nicht fertig und liefe zweitens Gefahr, ungerecht zu werden, weil ich etwas vergesse. Also werde ich mich mit unseren Problemen befassen und dabei, wie auch später, nur einen oder zwei Aspekte herausgreifen. Meine Sache ist es nicht, über Kollegen zu urteilen, die willentlich, bewußt und gezielt die Würde ihrer Schüler verletzen. Kommt so etwas vor, dann ist das Sache eines gesetzlich geregelten Verfahrens der Schulaufsicht oder einer Therapie und hat ursächlich mit guter oder schlechter Schule gar nichts zu tun, weil es das in jedem Beruf gibt. Ich darf also im folgenden davon ausgehen, dass die hier tätigen Lehrkräfte ihre Arbeit guten Willens verrichten. Diese Feststellung ist mir immens wichtig. Denn wie kann es trotz dieses guten Willens, der uns beseelt, immer wieder zu den so oft beklagten Verletzungen der Würde unserer Schüler, aber auch der Gerechtigkeit innerhalb der Gruppe kommen? Hat sich nicht unser Menschenbild, die Grundlage unserer gesamten pädagogischen Arbeit seit der Prügelei in meiner alten Schule radikal gewandelt?
Dazu ein paar Beobachtungen, Blitzlichtaufnahmen:
- Einer meiner Lateinlehrer hatte bei der Berufsbezeichnung im Passantrag „Dompteur" angegeben.
- Ich selber habe einmal meinen Unterricht in einer Mittelstufenklasse durch einen Supervisor beobachten lassen. Er stellte innerhalb von 40 Minuten 123 nicht durch meine Unterrichtsart provozierte Störungen durch Schüler fest, das sind 3,1 Störungen pro Minute oder etwa alle 20 Sekunden eine. Etliche weitere hatte ich selber verursacht.
- Während meiner Zeit als Gesamtschullehrer hatte ich einen Schüler, der nur schreiend kommunizieren konnte. Ich musste ein regelrechtes Training im Leisesprechen mit ihm durchführen.
- In meiner Micro-Zusatzausbildung zum Gesamtschul-Nawi-Lehrer erfuhr ich zu Beginn: „Die Schüler sind doch stärker!"
- Frontalunterricht in einem Physikkurs eines 12. Jahrgangs. Die meisten Schüler konnten sich nicht auf das Demonstrationsexperiment und die anschließende Auswertung konzentrieren. Auf meine Vorhaltungen antwortete eine Schülerin: „Arbeiten Sie doch mit uns dreien hier und lassen Sie die andern einfach versacken! Das macht ... auch immer so."
Das Schulgeschäft ist ein schönes aber kein leichtes Geschäft, und nicht jeder Schulmeister ist ein Dr. Specht. Aber jeder von uns wird zu jeder Zeit mit seiner ganzen Person gefordert und benötigt über sein fachliches Können hinaus ein hohes Maß an Emotionaler Intelligenz. Mancher ist, möglicherweise nur zu Zeiten, dabei überfordert, ohne es zu wissen. Mancher von uns nutzt seine Quellen nicht voll aus und hat, ohne es zu wissen, keine adäquaten Verhaltensweisen entwickelt, um solche zeitweiligen Überforderungen kompensieren zu können. In solchen Momenten kann dann das Unter-, das Unbewußte in uns Amok laufen. Wir gebrauchen dann die Macht über unsere Schüler, die uns qua Amt gegeben ist, zum Selbstschutz. Das ist noch nicht von vornherein ein Mißbrauch unserer Macht. Dazu kommt es erst dann, wenn solche Verhaltensweisen einschleifen und die Schwelle zu ihrem Einsatz gewohnheitsmäßig herabgesetzt ist. Dann können wir nichts mehr wirksam dagegen tun, auch wenn wir sonst guten Willens sind.
Es gibt Schulen und Kollegien, die sich dies eingestehen, die also die Defizite, die mehr oder weniger jeder hat, auch wirklich als Defizite akzeptieren. In solchen Kollegien wird offen miteinander über das Unterrichten geredet, da gibt es substantielle Rückkoppelung, Feedback. Ich halte es für ein Zeichen großer Stärke, persönliche Fehler eingestehen zu können. Ich weiß, dass es auch in Teilen unseres Kollegiums solches Feedback gibt, aber nicht im ganzen, und macher von uns lebt und arbeitet recht isoliert. Manche Kollegen anderer Schulen haben sich Gesprächs-Gruppen angeschlossen. Dort kann durch Fallbesprechungen und realitätsnahes Nachspielen dokumentierter Unterrichtsszenen Besserung erreicht werden, indem gemeinsam Vorschläge zur Änderung des Verhaltens erarbeitet werden. Vier Augen sehen mehr als zwei, sechs Köpfe haben ein höheres Fantasiepotenzial als einer. Manche Kollegien laden sich auch professionelle Berater ein. Es gibt weltweit anerkannte Institute, die sich forschend und aktiv gestaltend mit humanem Unterricht befassen. TZI, das heißt Themenzentrierte Interaktion, ist nur ein Beispiel. Auch der Gedanke der Schulprogramme zielt in diese Richtung.
Derartige Ratschläge hören aber immer nur die, die sie hören wollen oder die innerlich stark genug sind, sie hören zu können. Weil das so ist, sollten solche Maßnahmen fest institutionalisiert werden, verbindlich für alle, etwa so wie es für die Entwicklung von Schulprogrammen vorgesehen ist. Keiner kann sich dann entziehen, der solche Hilfe nötig hätte, sich aber schämt, es sich selber einzugestehen. Aber auch keiner, der mit einigem Recht von sich sagt, ich habe das nicht nötig. Dieser übersieht nämlich, dass jener ihn und seinen Rat eigentlich bäuchte. Außerdem sollte solche Unternehmung nicht einmalig sein, sondern auf Wiederholung und lange Dauer hin angelegt werden. Gerade zu Beginn solcher Prozesse treten Gegensätze besonders stark zutage, werden die Defizite besonders deutlich, ist das Ganze nur schwer zu ertragen. Im übrigen muss niemand befürchten, zu etwas gezwungen zu werden, was gegen seine Natur ist. Ändern kann sich nur jeder selber, und eine erzwungene Änderung kann nicht dauerhaft sein. Das wissen echte Profis.
Eine weitere Art, Anregungen zur Änderung zu bekommen, hat sich durch die schier unerschöpflichen Möglichkeiten des Internet aufgetan. Da kann das Feedback globalisiert werden. Am heimischen PC lässt sich die eigene Fortbildung weitgehend individualisieren. Die Elisabethenschule in Memmingen oder eine östereichische Website „Qis.at" geben Hilfestellung bei der Entwicklung von Schulprogrammen. Das Lehrerfortbildungsinstitut IPTS in Kiel führt zur Zeit Online-Fortbildungskurse zu sehr vielen verschiedenen Themen durch. Eine ganze Teilnehmerrunde ist in abendlicher Stunde über das Internet, d.h. über die Telefonleitung miteinander und mit dem Kursleiter verbunden und kann online mit einer Zeitverzögerung von Sekundenbruchteilen hören, was gesprochen wird, und sehen, was der Kursleiter oder auch ein Teilnehmer auf seinen Bildschirm bringt. Übrigens: die Einführung von Minicameras bei jedem Kursteilnehmer wird derzeit noch abgelehnt, weil (Originalton der letzten Tagung) „wir es gar nicht sehen wollen, wenn die Teilnehmer unrasiert oder mit Lockenwicklern im Schlafanzug vor dem Monitor sitzen und Brötchen kauen".
Was kostet das? Zunächst einmal den Mut, die Notwendigkeit solcher Maßnahmen einzusehen und bestehende Denkblockaden und Defizite konkret wahrzunehmen und zu akzeptieren. Allein das schon richtet sich so sehr gegen das jahrhundertealte Berufsbild des Schulmeisters, dass die Widerstände gegen eine Veränderung sehr stark sind. „Es ging schon immer so und es wird auch weiter so gehen, wenn wir nichts tun." ist gängiges und kaum zu widerlegendes Argument minderer Qualität. Wer aber erinnert, wie anregend und befreiend die Schilftage und pädagogischen Konferenzen der letzten Jahre wirkten, wird vielleicht doch den erforderlichen Mut aufbringen. Auf ähnlichem Niveau ist die weitverbreitete Meinung über die Computer- und Internetnutzung einzustufen: „Das habe ich nicht studiert. Ich bin für diesen neumodischen Kram und diesen technischen Firlefanz zu alt. Das muss ich mir nicht mehr antun." In mehreren deutschen Schulen laufen sehr erfolgreich Projekte wie z.B. „Schüler helfen Lehrern", gemeint ist: ins Internet. An emotionalen Kosten wird den Kollegen nur die Bereitschaft abverlangt, sich der Umkehrung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses und dem Risiko auszusetzen, sich auch einmal selber zu blamieren. Der Gewinn kann u.U. die Kosten weit aufwiegen, wenn die Lehrer-Schüler erkennen, wie hart unser Job ist.
Zweitens kostet solche Maßnahme
Arbeit. Die normale
Unterrichtsarbeit mit Vorbereitungen und Korrekturen wird ja nur
verschoben.
Und drittens, nicht zu unterschätzen, es kostet auch Geld,
Honorare
für professionelle Helfer, falls man sie engagiert. Auch
Lehrer-Schüler
müssen mit materieller Entlohnung rechnen können. Der
Staat,
unser Dienstherr, fürsorgepflichtig für uns, zahlt
nichts! Er
zahlt ja nicht einmal genug für das, was er uns Lehrern
dienstrechtlich
abverlangt (womit ich nicht unsere Gehälter meine, obgleich
auch da
Nachfragen besonders bei den jüngeren Kolleginnen und Kollegen
angebracht
wären). Spötter behaupten, federführend bei
der Entwicklung
pädagogischer Richtlinien sei der Landesrechnungshof.
Selbsthilfe
ist also angesagt. Alles zusammengerechnet entstehen uns Lehrern hohe
Kosten.
Ich meine aber, sie könnten gut angelegt sein.
Professionalität
muss ständig weiterentwickelt und angepasst werden. Der hohe
Einsatz
könnte sich lohnen, besonders dann, wenn sich das Kollegium
unterstützt
sieht von einer kooperationsbereiten Elternschaft, die weiß,
dass
jeder Lehrer nur säen kann und viele pflegen müssen.
Jeder von uns Lehrern kennt das Phänomen, dass es sich in einzelnen Klassen besonders der Unter- und der frühen Mittelstufe leichter unterrichten lässt als in anderen. Die Gründe dafür sind vielschichtig, aber nicht ganz undurchschaubar. Ohne Anspruch auf die volle Wahrheit möchte ich wieder von Beobachtungen zu einem Aspekt berichten. Es fiel mir auf, dass ich zu den Eltern von Kindern, in deren Klassen die Arbeit leicht von der Hand ging, ein besonderes Verhältnis hatte. Dieses Verhältnis war von Partnerschaftlichkeit, Kooperationsbereitschaft sowie von gegenseitiger Achtung und Inanspruchnahme geprägt, nicht aber von Anspruchsdenken, Unterwürfigkeit oder Festhalten an Hierarchien. In einer dieser Klassen existierte ein Elternstammtisch, bei dem wir Lehrerinnen und Lehrer gern gesehen waren, in einer anderen wurde ein gemeinsamer Fahradausflug veranstaltet mit Grillen am offenen Feuer und Singen in der Dämmerung. Ähnliches gibt es auch an dieser Schule und wir, Eltern und Lehrer, sollten es anregen, hüten und pflegen, so gut wir können.
Wenn ich Ihnen, den Eltern unserer Abiturienten, dieses erzähle, dann bedenke ich natürlich, dass Sie nun bald nur noch in Ausnahmen zur Elternschaft des Otto-Hahn-Gymnasiums rechnen werden. Deshalb spreche ich damit ganz besonders auch Sie, die Abiturienten selber, an. Sie werden sicher den Gedanken an Mutterschaft oder Vatersein noch nicht als besonders drängend und dringlich empfinden. Ich wünsche Ihnen aber allen das Glück, mit Kindern zu leben.
Ich glaube, dass die Mehrzahl der Eltern in den eben geschilderten Klassen begriffen hatten, dass sie die Schule und die darin arbeitenden Lehrer und alles, was dazugehört, nur für eine Zeitlang und für ihr Kind geliehen hatten. Natürlich wusste auch von ihnen jeder, dass sein Kind der Schulpflicht unterworfen war, dass Schulbau und Lehrergehälter von den Steuern bezahlt werden, die sie verdient hatten. Aber darum ging es gar nicht. Das komplizierte Geflecht von Rechten und Pflichten spielte keine Rolle da, wo sich Menschen zusammentaten, um anderen Menschen ins Leben zu verhelfen. Da hatte eben jeder seine Aufgabe, und die des anderen wurde nicht schlecht geredet. In dieser Umgebung war ich nicht höriger Knecht, auf dessen Arbeit und Leben jemand ein Recht hätte, sondern ich war gleichberechtigter und gleichverpflichteter Mitarbeiter, weder vergöttert noch verteufelt. Tun Sie bitte Ihren Kindern später den Gefallen und schaffen Sie in Ihren Familien eine Stimmung, die die Schulpflicht der Kinder als Pflicht akzeptiert und geben Sie ihnen gleichzeitig die Gewissheit, dass sie im Normalfall selber bestimmen, was sie aus ihrer Schulzeit machen, welchen Gewinn sie daraus ziehen. Wer Ihre Kinder durch Lob fördern soll, muss selber auch Lob erfahren, wenn es berechtigt ist. Diese Haltung entsteht in der Familie, weil dort im Kindesalter die Grundlage für unser späteres Menschenbild gelegt wird, dessen emotionale Komponente. Ebenso kann der wesentliche, nämlich emotionale Teil der Erziehung zur Höflichkeit nur dort geschehen. Ich habe mich immer gefreut, wenn sich die Teilnehmer einer Kursfahrt am Ende verabschiedet haben. Allgemein üblich ist das nicht. Ein Dank dafür, dass ein Lehrer etwas über seine Dienstpflicht hinaus getan hat, wirkt sehr anregend, es wieder zu tun.
Was kostet Sie das? Vielleicht kostet dieses Sie nichts, unter Umständen aber viel. Dann nämlich, wenn Sie an Ihrer Schulzeit schwer gelitten haben oder wenn Ihr Verhältnis zu Ihrer alten Schule schon geprägt war von destruktivem Anspruchsdenken, wenn für Sie schon früher Lehrer bis auf die Dr. Spechts unter uns unfähige Ignoranten oder alte Säcke waren oder wenn sie allgemein glaubten, Ihre Lehrer hätten uneingeschränkte Macht über Ihr Wohl und Wehe. Dann nämlich sollten Sie umlernen. Vergessen Sie das ganze Ungemach Ihrer eigenen Schulzeit, notfalls verdrängen Sie es oder versuchen Sie, es besser zu machen. Spätestens als Mütter und Väter sollten Sie wirklich das tun, was Sie sich immer von Ihren Eltern und Lehrern gewünscht haben mögen.
Ein weiterer Kalkulationsposten
könnte hinzukommen,
gestatten Sie mir bitte eine Utopie. Wenn sich Eltern und Lehrer einer
Schule als Erziehungsgemeinschaft verstehen, dann könnten Sie,
die
Eltern, sich auch an solchen Kosten beteiligen, die ich eben
für uns
Lehrer berechnete. Das kann durch die Hinnahme höherer Steuern
geschehen,
um dem Staat die Lösung seiner Aufgaben besser zu
ermöglichen,
oder durch größere Steuerehrlichkeit und vor allem
Steuergerechtigkeit.
Aus Steuern wird nun einmal die Schule finanziert. Auch das Suchen von
Sponsoren halte ich für eine Möglichkeit. Gute Schule
ist gewiss
nicht allein durch Geld zu erreichen, aber auf dem Weg dahin
können
schon ziemlich hohe Kosten entstehen.
Nun komme ich wieder direkt zu Ihnen, unseren Abiturienten. Auf den Karten zu Ihrer Abi-Fete stand: „Wir können nur Party". Ich weiß es besser: Sie können auch anders. Ich will Ihnen Ihre Meinung aber gar nicht ausreden, ich feiere kurzerhand mit. Aber alles zu seiner Zeit. Wenn ich jetzt über Ihre zukünftigen Kosten nachdenke, dann formuliere ich rückblickend möglicherweise in Teilen genau das, was Sie bisher in Ihrer Schulzeit nicht „bezahlt" haben. Das ist so beabsichtigt.
In der Quarta haben Sie das Konstruieren von Dreiecken gelernt. Wenn alles gut ging, haben Sie zu jeder Aufgabe eine Planfigur und eine Vorüberlegung entworfen, ehe Sie dann die Konstruktion anfertigten und sie exakt beschrieben. Wozu brauchen Sie das, was haben Sie damals trainiert? Hat sich die Mühe gelohnt? Ich will provozieren: in weiten Teilen gleicht unser Leben einer Konstruktionsaufgabe, auch wenn, anders als in der Mathematik, die Konstruktion fast nie der Planfigur entspricht. Wie entwerfen Sie die Lösung, Ihr eigenes Leben? Vor allem: entwerfen Sie überhaupt oder lassen Sie entwerfen? Werden Sie Ihr Schicksal passiv als Produkt der Umstände und höherer Gewalten erleiden oder genießen, je nachdem wie diese Ihnen geneigt sind? Oder werden Sie sich und Ihr Leben als Projekt auffassen, je nach Ihrer Existenzgrundlage als Projekt Gottes, einer allgemeinen Ethik oder Ihrer eigenen intelligenten Vernunft? Ihr Leben: ein Projekt, das Sie selbst entwerfen und verantworten! Worin stecken die geistigen Wurzeln Ihres Projekts?
Auf die werden Sie sich stützen wollen, wenn Sie sich immer wieder entscheiden müssen. Was soll Ihnen mehr gelten, Sie selbst, Ihre eigenen Leistungen, das Honorar dafür, Ihre soziale Stellung, Ihr Sieg in Konflikten, die Macht über andere, Ihre individuelle Freiheit? Oder sind Ihnen Ihre Beziehungen zu den Menschen Ihrer Umgebung wertvoller, das gemeinsam Erreichte und Erlebte, die gegenseitige Achtung, der oft mühsam ausgehandelte Kompromis, der Schutz anderer, Ihre Treue und Verlässlichkeit in Ihrer Bindung an andere Menschen? Gerade dass jeder dieser Werte beider Aufzählungen bei vielen anerkannt ist, macht die Entscheidungen so schwer. Aber wir haben die Freiheit der Entscheidungsmöglichkeit, immer wieder, sogar die, ob wir uns überhaupt entscheiden wollen. Haben Sie diese Freiheit bisher genutzt? Sie ist die Grundlage Ihrer Menschenwürde, sie war es in der Schule und sie wird es in Zukunft sein. Ihr Garant ist unsere Staatform der Demokratie.
Auch wenn diese Freiheit, also Ihre Würde, ein Menschenrecht ist, so haben Sie doch kein Recht darauf. Sie wird Ihnen, wurde uns, geschenkt, verlustreich von Fremden erkämpft gegen viele unserer Eltern und Großeltern. Jedes totalitäre Regime trachtet danach, diese Freiheit seiner Untertanen zu kassieren. Jeder, der autoritär Macht ausübt, will im Grunde das Gleiche. Demokratische Rechte müssen verteidigt, die Demokratie muss überall und immer geschützt werden durch den richtigen Gebrauch ihrer Rechte. Sie leidet gewiss da, wo wir ihrer überdrüssig werden, weil es unbequem ist und Arbeit oder Kopfzerbrechen macht, sie auszuüben, indem wir unsere - geschenkten - demokratischen Grundrechte wahrnehmen. Das ist die Gefährdung durch jeden von uns selbst. Es wird aber auch andere Angriffe auf die Demokratie und die von ihr garantierte Menschenwürde geben. Solche Angriffe werden von dort kommen, woher wir sie am wenigsten vermuten. Sie werden sich modernster Mittel bedienen. In welcher Weise leistet z.B. die weltweite Vernetzung unserer Computer, an der ich selber nach Kräften mitgearbeitet habe, dieser Gefahr Vorschub? Was wird gespeichert? Wozu wird gespeichert? Wer hat Zugriff auf unsere Daten? Jeder Mißbrauch schränkt unsere Freiheit ein, tastet unsere Menschenwürde an. Wer will die Gefährdung durch ihren Mißbrauch herunterspielen und wozu? Wer kann davor warnen und uns schützen?
Was kostet Sie der Schutz Ihrer Persönlichkeitrechte, Ihrer Menschenwürde? Was hat oder hätte er Sie denn bisher gekostet? Fast alle kennen wir das kleine mulmige Gefühl, das Sie hatten, wenn Sie sich ungerecht behandelt oder bewertet fanden und sich nun beschweren wollten. Kein echtes Herzklopfen, aber doch ein Zeichen dafür, dass Sie einigen Mut aufbringen mussten. Ich meine jetzt die Stillen unter Ihnen, nicht unbedingt die, denen keine Note gut genug war. Als Sie jünger waren, haben Ihnen wahrscheinlich Ihre Eltern in Konfliktfällen beigestanden. Mit zunehmendem Alter mussten Sie selber für sich einstehen. Haben Sie nicht manchmal resigniert und sich nicht dem Risiko ausgesetzt, noch schlechter bewertet zu werden, oder sich nicht die Mühe einer sachlichen Argumentation gemacht? Wie oft haben Sie nicht aufgemuckt, wenn es eigentlich dran gewesen wäre, sich nicht aus dem Gespinst von Zukunftsängsten und Karrierewünschen freimachen können, das vielleicht nicht einmal Ihr eigenes Produkt ist? Der Umgang mit Schülern war vor einiger Zeit schwieriger, und ich rede hier dafür, dass er wieder schwieriger wird, meine Kolleginnen und Kollegen mögen es mir verzeihen.
Die Kosten, die ich hier und gleich noch aufzähle, haben viele von Ihnen allerdings doch schon in ihrer Schulzeit getragen. Sie sind ja auch nicht bei allen Lehrern gleich hoch. Möglicherweise viel höher sind die Kosten, die sie im Verhältnis zu Ihren Mitschülern tragen müssen. Mancher Schüler erwirbt relativ früh die Fähigkeit, das Geschehen in der Klasse oder im Kurs nach seinen Absichten oder Bedürfnissen zu steuern. Wenn das gelingt, kann es die gemeinsame Arbeit der Gruppe schlimm behindern. Nicht immer können wir Lehrer das verhindern. Auf jeden Fall ist ein großer Anteil unserer Kraft und Aufmerksamkeit gebunden. Ich kann Ihnen versichern, dass es Wunder wirken kann, wenn dann eine Schülerin oder ein Schüler die Initiative ergreift und den Betreffenden in seine Schranken weist. Dabei können aber hohe Kosten fällig werden: man muss nein sagen lernen zu Seinesgleichen, vielleicht sogar zu seinen Freunden. Vielleicht wird der andere auch von einem ganzen „Clan" unterstützt. Sollten Sie Pädagogik studieren, dann werden Sie alles das mühsam lernen müssen, was Sie hier vielleicht schon erlebt haben. Wenn man solche Hilfstruppen gegen sich aufbringt, wird es vielleicht noch teurer.
Lohnt es denn, sich so zu engagieren,
vielleicht mühsam
gegen den Strom zu schwimmen? Der Pole Stanisaw Jerzy eç
schrieb:
„Wer an die Quelle will, muss gegen den Strom schwimmen."
außerdem
hat er aus eigener Erfahrung die Lehre gezogen: „Wer gegen
den Strom schwimmt,
kann nicht erwarten, dass dieser seine Richtung ändert." Das
konnten
auch Sie bisher und in Zukunft nicht erwarten, und dennoch haben manche
von Ihnen doch dafür die Kosten getragen. Zahlen Sie bitte
auch in
der Zukunft weiter. Seien Sie getrost auch Sand im Getriebe, besonders
dem Ihres eigenen Lebens.
Ich wünsche Ihnen körperliche und geistig-seelische Gesundheit für ein erfülltes Leben, das wenigstens näherungsweise Ihrem Entwurf entspricht, voll mit Anregungen, auf die Sie sich mit Neugier stürzen, voller Auseinandersetzungen, in denen Sie sich Ihrer selbst vergewissern und Ihre Fähigkeiten erproben und stärken können, voll Frieden, in dem Sie Ihren Körper, Ihren Geist und Ihre Seele erfrischen können. Und ich wünsche Ihnen einen Menschen, voller Liebe zu Ihnen, der Ihnen zeigen kann, wer Sie wirklich sind.
Rückmeldungen zu dieser Ansprache versuche ich nach Möglichkeit zu beantworten, bin auf jeden Fall sehr daran interessiert. Sollte Ihr Browser nicht für den Emailversand konfiguriert sein, dann schreiben Sie bitte an HGoldbeck@web.de und wählen Sie als Betreff "Feedback Abi 2001", damit Ihre Email richtig einzusortieren ist.